„Im Jahre 1931 schloss ich mich in Darmstadt der Freien-Arbeiter-Union (Anarcho-Syndikalisten) als Mitglied an. Eine Funktion übte ich bei dieser Formation nicht aus. Mit dem Leiter der Ortsgruppe Darmstadt – Gustav Doster – kam ich wohl zusammen.“
Leinau verlässt mit 18 Jahren sein Elternhaus in Bad Salzelmen/Schönebeck (Sachsen-Anhalt), um in Hamburg als Maschinenschlosser zu arbeiten. Bald darauf, im Jahr 1929, reist er als Wandermusiker einer „Sing- und Spielschar“ durch Europa. 1931 beendet er seine Wanderschaft, lässt sich in Darmstadt nieder und wohnt bei der Familie Ehmig in der Liebfrauenstraße 78.
Nach etwa einem Jahr geht er im April 1932 erneut als Musikant auf Wanderschaft, um im August des Jahres nach Darmstadt zurückzukehren. Vermutlich im September 1933 verlässt Leinau Deutschland und geht nach Paris.
Im Februar 1934 kehrt er nach Deutschland zurück und wird am 24.02.1934 verhaftet. Am gleichen Tag wird er im Landgerichtsgefängnis Darmstadt eingeliefert. Das Sondergericht Darmstadt verurteilt ihn daraufhin – auf der Basis des Heimtückegesetzes – zu zwei Jahren Gefängnis, die er in Darmstadt, Butzbach und Zweibrücken verbüßen muss. Die Gnadengesuche seiner Freundin Tilly werden abgelehnt, da das Gericht von der grundsätzlichen Gegnerschaft Leinaus zum Nationalsozialismus ausgeht.
Am 26.05.1936 wird er entlassen.
Aus den Unterlagen wird deutlich, dass Alfred Leinau 1939 heiratet: Margarete („Gretel“) Heeger aus Nieder-Ramstadt. Beide versuchten nach dem Krieg, den Anarchosyndikalismus zu reaktivieren.

Aenne u. Fritz!
Heute erhielt ich Deinen Brief, ich danke nicht dafür, denn es mutet mir wie ein Hohn an, was Du da schreibst, sag, bist Du noch ganz bei Sinnen? Ich muss notgedrungen daran zweifeln. Ich bin sehr enttäuscht von Dir, gerade bei Dir hätte ich doch ein etwas logischeres Denken vorausgesetzt. Ihr seid eben auch bloss Herdentiere, ein Schafe, welche nicht ohne einen Leithammel sein können, ich habe als Antwort nur eines, ich bedaure Dich Aenne, wärest Du nicht meine Schwester, dann wäre dies der letzte Brief an Dich, ich merke immer mehr, dass ich auch die letzte Verbindung meines früheren Lebens, meiner Kindheit zerreissen muss, nun sei es, ich jedenfalls werde meinen Weg weitergehen u. wir werden sehen, wer der Enttäuschte ist, Du oder ich. Alles was Du schreibst, ist purer Wahnsinn merkst Du denn nicht, wo das alles hinführt? Glaube mir, ich bin nicht mehr der kleine brave naive Alfred von 1927, ich habe mehr Lebenserfahrung wie Ihr, die Ihr noch nicht aus Eurem Städtchen rausgekommen seid, ich sehe und kann anders urteilen, Ihr müsst das glauben, was Eure Zeitung schreibt, Ihr müsst das glauben, was Euch eine Clique von braunen Mordbanditen im Radio erzählt, denn Ihr habt ja keine Möglichkeit etwas anderes zu hören u. dann droht ja auch hinter allem das Konzentrationslager u. Gefängniss u. wieviel Menschen werden heute auf der Flucht erschossen? Und was sind es für Menschen? Deiner Auffassung nach Landesverräter u. Verbrecher, nun gut, nennt uns so, auch ich bin einer von ihnen. Aber wiederum, was könnt Ihr wissen, was das für Menschen sind, die man heute dort foltert u. erschiesst, was weisst Du von einem Erich Mü[h]sam, einem Dr. [Hodan?] u. tausend andere, die mehr, welche für die Menschheit mehr geleistet haben, wie 10 Generation Durchschnittsmenschen und ihr ganzes Verbrechen bestand nur darin, dass sie die Gerechtigkeit wollten, nur darin, dass sie wollten, dass alle Menschen frei sein sollen, frei von Sklaverei, denn was seid Ihr anderes, besonders doch der Fritz, von wem ist er abhängig, nur von dem
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Unternehmer. Also mit dem Krieg, sei nur ein Hirngespinst, ich wollte es wäre dem, gut Hitler will Frieden, wie Du so schön sagst, nun dann frage ich Dich, warum führt man ab 1.1.34 die Wehrpflicht wieder ein? Warum hat man die S.A. u. S.S. Warum zieht man den Arbeitsdienst so militärisch auf, warum hat man in allen Zeitungen nur Platz für Propaganda für Luftaufrüstung in Deutschland, warum bildet unterrichtet man die Menschen mit Gasmasken auszugehen? Alles nur weil man Frieden will, Du das glaubst Du doch sicher selber nicht, was Du da schreibst, ich betone wieder, wie in dem vorigen Brief, weigern sich die Arbeiter aller Länder in der nächsten Zeit nicht Kriegsmaterial herzustellen, [?] verweigern sie nicht den Kriegsdienst, dann geht bald ein grosses Morden an, wie es die Welt noch nie erlebt hat, denkt man an die Millionen Tote u. Krüppel des Weltkrieges, sie warnen Euch, hier so wie da. Du schreibst schade, dass ich nicht ein echter Deutscher sei: Du ich schäme mich jedenfalls, wenn mich jemand nach meiner Nationalität frägt, sagen zu müssen, ich sei in Deutschland geboren, wenn ich könnte, würde ich das ableugnen, ja schämen tue ich mich. Dann frägst Du, ich suche Heimat, jawohl, aber nicht diese, die Du meinst, ich verstehe darunter etwas anderes wie Du. Ja Du hast Recht, ich bin auch einer von den vogelfreien Gesellen, die jeder über den Haufen schiessen kann, ich bin stolz darauf, ein sogenannter Landesverräter zu sein, und wenn ich selbst mein Leben dafür aufs Spiel setzen muss, Du ich habe es schon getan u. habe mit der Waffe in der Hand meine Ideen verteidigt, aber Ihr noch nicht. Ein kleines verirrtes Schaf nennst Du mich, Aenne, ich bin u. leide nicht allein, hier im Ausland sind es blos 60.000 Menschen, die dasselbe Los tragen, wie ich u. in Deutschland gibt es wohl noch Millionen, nur hört u. sieht man sie nicht, dann gibt es auf der ganzen Welt noch Millionen Menschen, die so denken wie ich, nun und das ist schon etwas, eher hätte ich Berechtigung, das nun Euch zu sagen, denn die ganze Welt ist gegen Euch, vielmehr gegen den Faschismus in Deutschland, nun wer ist da das verlorene Schäfchen?? Ein Märtyrer für etwas zu sein, liegt mir nicht, auch nicht für meine Idee, nur immer ein Kämpfer werde ich sein, solange ich lebe. Aber bitte, lass mich in Zukunft mit solchen Flunkereien oder besser gesagt, solchen Quatsch wie in dem letzten Brief in Ruhe, bitte verschone auch Tilly damit, sonst verliert sie die Achtung vor Dir, denn ein kleines Kind kann es nicht schlechter schreiben, ein Märchen ist
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gar nichts dagegen. Aber lass nur, die Enttäuschung wird bei Euch kommen und es wird schrecklich für Euch sein. Nun zu Elfriede, also sie hat Dummheiten gemacht, wie kann man sich aber auch eine Blinddarmentzündung zuziehen, nun aus dem Schreiben, ersehe ich ja, dass es ihr schon besser geht, immer nur guten Mutes. Dass Ihr da Tilly Weihnachten nicht bewirten könnt, kann ich mir denken. Ja, Weihnachten, nur eines tut mir weh, dass ich nicht bei meiner kleinen Frau sein kann, das Fest an sich ist ja Blödsinn. Nun, auch die Zeit wird wieder kommen, wo wir beieinander sein werden. Ja, wenn Du schon den Willen hattest mir ein kleines Packetchen zu senden, so tue etwas richtig, durch geht es, da brauchst Du keine Angst zu haben, nur musst Du 4 Formulare ausfüllen, kannst Dich ja schon auf der Post erkundigen, denn weisst Du, eine Freude ist es doch, wenn man eine Kleinigkeit bekommt. Also nun für heute genug, bist Du verletzt über den Brief, dann kann ich nichts dafür, doch ich liebe die Wahrheit u. die sage ich jedermann wie ich denke.
Seid Ihr gegrüsst von Eurem Alfred
Meine neue Adresse, sie bleibt
solange bis ich Euch eine neue
mitteile, aber alle Post an
A. Leinau
12, rue Clisson
Hotel de loi Paix
Paris 13 e
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N.B. Halt eines habe ich vergessen, dass Du nicht denkst ich kneife, die Volksabstimmung, Du ich bin der Auffassung, dass diese Volksabstimmung genau son [sic!] Schwindel ist, wie alle Wahlen, gewiss 91 % haben mit Ja gestimmt, aber kannst Du mir beweisen, dass sie es freiwillig taten? Stand doch hinter allem der Terror u. die Angst vor den Folgen, also Kommentar überflüssig.
Transkription. Brief Alfred Leinaus an seine Schwester Anna (Aenne) vom 8. Dezember 1933 (Interpuntkion und Rechtschreibung des Originals wurde beibehalten); in: Strafprozessakte Alfred Leinau, HStAD G 27, 256


